Ein Beitrag von Prof. Dr. Stephan Rammler
„Viel mehr als die immer neue Erzählung von der Infiltration des Lebens durch vergangenes und verdrängtes Unheil interessiert uns hier die Erzählung von der Infiltration unseres gegenwärtigen Lebens durch ein schon beginnendes, aber vielleicht noch begrenzbares Unheil aus der Zukunft.“
— Bernd Ulrich
Kalifornien Anfang der 1990er – Aufbruch und Ernüchterung
Vor fünfunddreißig Jahren habe ich in Kalifornien gelebt. Nach der Weltklimakonferenz in Rio 1992 erreichte die Klimadebatte einen ersten Höhepunkt. Ich hatte einen Studentenjob am Lawrence Berkeley Lab in den Hügeln über Berkeley angenommen. Als eine der ersten Forschungseinrichtungen weltweit arbeitete man dort bereits zu politischen und ökonomischen Konzepten der Klimaregulierung, zu Energieeffizienz und zu Alternativen zur fossilen Energie.
Gleichzeitig erkundete ich Kalifornien. Die Schönheit der Landschaft übertraf alles, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Besonders faszinierten mich die Redwoods – majestätische Wälder an der Pazifikküste, in denen über tausend Jahre alte Mammutbäume wie Götter über einem Paradies wachen.

Umso trauriger ist, was seitdem in diesem Paradies geschehen ist. Der ehemalige Hotspot ökologischen Denkens wurde selbst zu einem Schaufenster ökologischer Verwüstung: enorme Hitze, anhaltende Trockenheit, zerstörerische Brände, dramatischer Wassermangel und extreme Unwetter – die drei apokalyptischen Reiter des Klimawandels weltweit.
Während ich dies schreibe, brennt Los Angeles erneut in einer nie dagewesenen Weise. Schon jetzt gilt das Inferno als die teuerste Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA.
Globale Krisensymptome der Erderwärmung
Und nicht nur die USA sind betroffen:
- In Südamerika versiegt der Rio Negro, der zweitgrößte Nebenfluss des Amazonas.
- Das Pantanal, eines der größten und artenreichsten Feuchtgebiete der Welt, steht großflächig in Flammen.
- Mitteleuropa kämpft mit Überschwemmungen.
- Westafrika erlebte 2024 eine Extremregenzeit, die Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieb.
Wissenschaftler:innen schlagen Alarm: Die Geschwindigkeit, mit der CO₂ heute in die Atmosphäre entweicht, bricht alle Rekorde der letzten 66 Millionen Jahre. Eine Forschergruppe warnt sogar, dass die Erwärmung der Erde noch weitaus heftiger ausfallen könnte, als bisher angenommen – bis zu 4,8 Grad bei einer CO₂-Verdoppelung. Selbst wenn die Menschheit ab sofort aufhört, CO₂ zu emittieren, werden die Folgen für mindestens 100.000 Jahre unumkehrbar sein.
Der aktuelle Emissions Gap Report der Vereinten Nationen geht davon aus, dass sich die Erde bis um 3,1 Grad Celsius erwärmen wird, wenn der bisherige Kurs beibehalten wird.

Drei Grad – eine planetare Zäsur
Nehmen wir an, dieser Zustand träte ein – welches Zukunftsbild ergäbe sich daraus? Der Journalist Mark Lynas beschreibt, dass bereits eine Erwärmung um drei Grad eine katastrophale Umgestaltung unseres Planeten bedeuten würde und die Grundlage des menschlichen Lebens infrage stellt.
Er warnt: Bei Überschreiten dieses Schwellenwerts werden ökologische Kipppunkte erreicht. Wälder wie der Amazonas-Regenwald drohen zu kollabieren, was globale Auswirkungen auf das Klima hat und die Artenvielfalt dramatisch reduziert. Durch das Schmelzen der Permafrostböden wird Methan freigesetzt – ein Rückkopplungseffekt, der den Klimawandel beschleunigt und schwerer kontrollierbar macht. Erwartbar sind außerdem extremere Wettermuster, häufigere und intensivere Hitzewellen, Dürreperioden und Überschwemmungen.
Das Abschmelzen des grönländischen und des westantarktischen Eisschildes würde den Meeresspiegel erheblich steigen lassen. Küstenstädte und -regionen weltweit wären massiv bedroht. Hitze und Trockenheit würden Ernteerträge verringern – insbesondere bei Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Mais. Die Gefahr von Hungersnöten steigt, Ernährungssicherheit würde zu einem globalen Problem.
Folgen für Deutschland
Auch der Klimaforscher Stefan Rahmstorf beschreibt die Auswirkungen einer globalen Erwärmung um drei Grad: Für Deutschland würde dies eine durchschnittliche Temperaturzunahme von etwa sechs Grad bedeuten, da sich Landgebiete stärker erwärmen als der globale Durchschnitt.

Das hieße: Extreme Hitzewellen mit Temperaturen über 45 Grad Celsius, erhebliche gesundheitliche Risiken, massive Beeinträchtigungen der Landwirtschaft sowie Flora und Fauna – große Teile der heutigen Biosphäre sind nicht an so hohe Temperaturen angepasst.
Besorgniserregend ist zudem die Geschwindigkeit der Erwärmung, die etwa zehnmal schneller verläuft als der natürliche Übergang von der letzten Eiszeit zum Holozän. Diese rasche Veränderung erschwert die Anpassung für Mensch und Natur erheblich.
Der Kollaps der Klimakommunikation
Während Wissenschaftler:innen immer dringlicher warnen, wächst die Skepsis, ob Klimagipfel und die sie begleitenden medialen Debatten den notwendigen Wandel überhaupt noch anstoßen können. Medien scheinen das Ausmaß der Katastrophe kaum noch angemessen kommunizieren zu können.
Statt einer Eskalation der Debatte erleben wir einen Kollaps der öffentlichen Klimakommunikation – in den USA wie in Europa. Große amerikanische Banken und Vermögensverwalter steigen aus globalen Klimaallianzen aus. In der deutschen Industrie erscheint das Thema plötzlich als inopportun. Selbst die Grünen, für die der Kampf gegen die Erderwärmung einst ein Kernthema war, sprechen kaum noch darüber.
Der Zeit-Kolumnist Uwe Jean Heuser bezeichnete dieses Agenda-Setting-Problem als „Perversion der Gleichzeitigkeit“.
Erderwärmung als Leitkrise der Gegenwart
Man kann diese Brände – tatsächlich wie metaphorisch – zu löschen versuchen, so gut es geht. Doch brennen wird es weiterhin, hier und fast überall auf der Welt. Der Klimawandel ist entfacht und kaum noch aufzuhalten. Damit ist das Thema der kommenden Jahrtausende gesetzt.
Für visionäres ökologisches Denken ist diese Entwicklung ebenso folgenreich wie für die Sozialpsychologie und die politische Soziologie gesellschaftlicher Transformationen. Das, was wir jahrzehntelang hofften, noch vollständig aufhalten zu können, tritt nun mit unerbittlicher Folgerichtigkeit ein.
Die 1,5-Grad-Marke ist überschritten, die 2-Grad-Marke bald auch. Die Großutopie der Nachhaltigkeit schrumpft zu einer nur noch bedingt realisierbaren Utopie: einer Transformation, die zeitgleich schnelle und starke Anpassung an die bereits nicht mehr verhinderbaren Realitäten der Erderwärmung leisten muss.
Klima-Resilienz als Leitkonzept
Man kann diese tatsächlichen wie auch metaphorischen Brände löschen, so gut es geht – doch das Feuer wird weiterlodern. Hier, und fast überall auf der Welt. Der Klimawandel ist entfacht, und er lässt sich kaum noch aufhalten. Damit ist das Thema der kommenden Jahrtausende gesetzt.
Für das visionäre ökologische Denken ist diese Entwicklung ebenso folgenreich wie für Sozialpsychologie, politische Soziologie und die gesamte Politik der Nachhaltigkeit. Das, was wir jahrzehntelang noch zu verhindern hofften, tritt nun mit unerbittlicher Folgerichtigkeit ein: Die 1,5-Grad-Marke ist überschritten, die Zwei-Grad-Marke bald auch. Die große Utopie einer vollständigen Nachhaltigkeit schrumpft damit zu einer nur noch bedingten Utopie – einer Transformation, die gleichzeitig Anpassung verlangt.
Anpassung heißt: Die Klima-Resilienz – also die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit unserer Gesellschaften – muss sich zu einem planetaren Leitkonzept entwickeln. Über Jahrtausende hinweg. Doch selbst dann entsteht keine perfekte Zivilisation im stabilen Gleichgewicht mit einer intakten Natur, wie sie vor fünfzig Jahren noch denkbar war. Stattdessen müssen wir lernen, bestmöglich mit den unvermeidbaren Folgen der Heißzeit umzugehen – in einer Welt, die sich dauerhaft und dynamisch verändert.
Vielleicht bleibt ein Zeitfenster von ein bis maximal zwei Jahrzehnten, um den Beginn einer unkontrollierbar eskalierenden Zivilisationsagonie zu verhindern. Danach droht ein langer Notfall: eine sich selbst verstärkende Negativspirale, die von Kipppunkt zu Kipppunkt springt, immer schneller, immer komplexer – eine Polykrise, in der katastrophale Entwicklungen ineinandergreifen.
Von allen Treibern dieser Krise erzeugt der Klimawandel den größten und langfristigsten Handlungsdruck. Er ist die Leitkrise unserer Gegenwart. Deshalb sollten wir genau hier, am Hebelpunkt der Erderwärmung, unsere politischen Energien und kulturellen Innovationskräfte bündeln – und sie auf ein Leitbild der Anpassung ausrichten. Wir werden die Erwärmung zwar nicht mehr stoppen, können aber durch kluge Strategien einer sozio-evolutionären Anpassung Zeit gewinnen: Zeit für langfristige kulturelle Lernprozesse, für neue, ökointegrative Lebensstile.
Das optimistischste Szenario – eine gelingende europäische Anpassungskultur – wäre ein Kaleidoskop aus technologischen, sozialen und kulturellen Innovationen. Diese „bedingte Utopie der Klimatransformation“ setzt voraus, dass wir uns von Illusionen verabschieden, aber Hoffnung und Handlungsfähigkeit bewahren.
Drei Szenarien der Klimazukunft
- Szenario 1 – Resilienz-Kapitalismus (wahrscheinlich): Kriegerische Auseinandersetzungen um Lebensraum, Nahrungsmittel und Wasser; extreme soziale Ungleichheit; Anpassungsindustrie als Einnahmequelle, sichtbar an der boomenden Kühl- und Kältemittelökonomie.
- Szenario 2 – Klimafuturismus (möglich): Technofuturistische Selbstüberschätzung durch Geoengineering, als Fortsetzung imperialer Politik; riskant wegen lückenhafter Daten und der Konkurrenzlogik des Weltsystems.
- Szenario 3 – Bedingte Utopie der Klimatransformation (visionär-utopisch): Europäische Anpassungskultur mit technologischen, sozialen und kulturellen Innovationen; eher unwahrscheinlich angesichts menschlicher Krisenreaktionen.
Klimafuturologie als Methode
Vor der detaillierten Entfaltung dieser Szenarien lohnt ein Zwischenschritt: Klimafuturologie als Denkweise und Methode. Sie soll:
- Wahrscheinliche, je nach Weltregion unterschiedliche Reaktionen auf die physikalisch-meteorologischen Ausprägungen der Erderwärmung imaginieren.
- Möglichkeitsräume visionärer, normativ begründeter Zukünfte beschreiben.
Klimafuturologie ist kein fertiges Konzept, sondern ein Entwurf, der disziplin- und genreübergreifend fortgeführt werden muss – als Grundlage für politische und kulturelle Hemmnisanalysen sowie Strategien der Klimaanpassung, eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft.
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