In Deutschland fühlte sich der Sommer eher durchwachsen an, global jedoch war er – erneut – der heißeste seit Beginn der Messungen. Die Folgen sind messbar, wenn auch oft erst im Rückblick: Schätzungen sprechen von über 62.700 hitzebedingten Todesfällen in Europa zwischen Anfang Juni und Ende September. Besonders betroffen waren Italien und Spanien; in Deutschland werden rund 6.300 Hitzetote veranschlagt. Hitze ist ein „leiser Killer“: Sie hinterlässt keine umgestürzten Bäume oder Trümmerlandschaften – die Dimension wird erst Monate später durch Datenanalysen sichtbar (u. a. „Nature Medicine“).
Europa erwärmt sich etwa doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt. Hotspots liegen im Mittelmeerraum und in Südosteuropa – mit entsprechend gravierenden Gesundheitsfolgen. Die Autor:innen der aktuellen Studie mahnen eine neue Generation von Frühwarnsystemen an, die Wetter- mit Gesundheitsdaten verknüpfen, und umfassende Anpassungsmaßnahmen von der Stadtplanung bis zur Versorgung vulnerabler Gruppen.
Diese Befunde zeigen zweierlei: Anpassung ist unvermeidlich – und zugleich bleibt Minderung (Mitigation) dringend. Beides gehört zusammen. Dennoch fehlt es vielerorts an politischer Entschlossenheit und öffentlicher Aufmerksamkeit. Genau hier setzen wir an: beyond new arbeitet an Bildern und Szenarien, die Orientierung geben – jenseits Alarmismus, jenseits eines „Weiter so“.
Der folgende Beitrag „Heißzeit“ beschreibt, was Heißzeit konkret bedeutet – und wie wir Gesellschaft, Infrastruktur und Lebensweisen so anpassen können, dass Zukunftsfähigkeit entsteht: von Schwammstädten, naturbasierten Lösungen und einem „Klimabauhaus Europa“ bis zu einer Klimafuturologie, die Risiken nicht nur bilanziert, sondern lebenswerte Zukünfte entwirft.
Heißzeit.
Warum gerade jetzt die Weichen für Generationen gestellt werden
Eine Serie von Eckard Christiani und Prof. Dr. Stephan Rammler in forum Nachhaltig Wirtschaften. TEIL 2 – erschienen September 2025
Manche Zeiten verlangen viel von uns: Klarheit, Erkenntnis, Mut, Entschlossenheit. Die alten Griechen nannten solche Wendepunkte „Kairos-Momente“: Jene entscheidenden Augenblicke, die unverhofft wie ein Spalt im Gewebe der Zeit hervortreten – offen nur für einen Atemzug. Wer zögert, verpasst sie. Wir leben in einem solchen Kairos-Moment. Krisen verdichten sich, Gewissheiten bröckeln und Entscheidungen drängen. Jetzt entscheidet sich, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen – und ob es gelingt, Transformation konstruktiv zu gestalten. Der zweite Teil der Serie von Prof. Dr. Stephan Rammler und Eckard Christiani widmet sich deshalb der Heißzeit: der Realität der Erderhitzung – und den Wegen, wie wir Gesellschaft, Infrastruktur und Lebensweisen anpassen können, um Zukunft zu sichern.
Der Klimawandel ist schon lange Realität: spürbar in unserem Alltag, sichtbar in unseren Landschaften. Überflutete Straßen und Dörfer, brennende Wälder, Hitzewellen und Dürre sind keine Ausnahmen mehr, sondern Teil eines neuen Klimaregimes. Die Pariser Klimaziele? Überschritten. Die Heißzeit? Bereits eingeläutet. Wir erleben aktuell das Kippen einer planetaren Stabilität und wissen: Selbst, wenn morgen kein CO₂ mehr ausgestoßen wird, wird sich die Erde weiter erhitzen – über Jahrhunderte.
Doch was tun wir? Wir reagieren zu langsam, zu kleinteilig und zu national. Wir verhandeln Emissionsziele, während Gletscher schmelzen. Wir diskutieren über Tempolimits, während der Jetstream kippt. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit – und wir laufen gerade wieder rückwärts.
Während die Klimawandelfolgen immer eindrücklicher werden, Wissenschaftler*innen ihre Sprache dramatisieren und Warnungen globaler werden, verliert die Klimakatastrophe an öffentlicher Aufmerksamkeit, fehlt es an politischem Mut und an kollektiver Entschlossenheit. Es ist nicht nur die Erderwärmung, die uns bedroht – es ist die gesellschaftliche Erschöpfung im Angesicht der Multikrise. Wir erleben keinen Klimaalarmismus mehr – sondern im Gegenteil eine Klimalähmung. Der Klimawandel ist mehr als eine ökologische Störung. Er ist die Leitkrise der Gegenwart. Und gerade deshalb kann er – und muss er – zum Katalysator für kulturellen Wandel werden.
Von der Vermeidung zur Gestaltung
Klimapolitik ist nicht (nur) eine Technologiefrage und Angelegenheit von Emissionsbudgets, Effizienzgewinnen und CO₂-Zertifikaten. Selbst unter besten Bedingungen ist der Pfad zur Begrenzung der Erwärmung auf unter zwei Grad kaum noch erreichbar – Vermeidung reicht nicht mehr. Was nun zählt, ist Klimaanpassung im Sinne einer aktiven Neugestaltung. Anpassung als schöpferischer Prozess und kulturelle Innovation. Diese Transformation ist keine Niederlage der Klimapolitik, sie ist ihre nächste Stufe. Und wir wissen, was zu tun ist.
Die Epoche der Klimaresilienz
Mit der neuen Epoche der Heißzeit beginnt eine tiefgreifende zivilisatorische Herausforderung: Es geht um mehr als Nachhaltigkeit, nämlich um Resilienz – um die Fähigkeit von Gesellschaften, sich an eine radikal veränderte Umwelt anzupassen, ohne ihre humane Substanz zu verlieren. Diese Klimaresilienz wird zur zentralen politischen Idee des 21. Jahrhunderts werden. Albert Einstein sagte: „Die gewaltigen Probleme unserer Zeit können nicht mit derselben Denkart gelöst werden, welche jene Probleme hervorgebracht hat.“ Klimaresilienz verlangt ein neues Denken: Langfristig, global und integrativ. Ein Denken, das nicht nur Technologien betrachtet, sondern Lebensstile, Wertvorstellungen und institutionelle Lernfähigkeit.
Europa – der Kontinent der Anpassung
Europa könnte zum Vorreiter einer neuen Anpassungskultur werden. Nicht aus moralischer Überlegenheit – sondern weil hier viele Voraussetzungen zusammenkommen: eine aufgeklärte Gesellschaft, eine historisch gewachsene Infrastruktur, stabile Institutionen, technologische Innovationskraft und demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten. Und auch, weil die USA, China und Russland als Vorreiter der Transformation erst einmal wegfallen. Statt dem Wandel hinterherzulaufen, könnte Europa ihn gestalten – als Modellregion für klimagerechte Zukunftsfähigkeit.
Diese Vision beginnt im Alltag: mit Städten, die Wasser nicht ableiten, sondern zurückhalten – durch Schwammprinzipien, begrünte Dächer und versickerungsfähige Plätze. Mit Gebäuden, die nicht nur Energie sparen, sondern aktiv CO₂ binden – gebaut aus Holz, Lehm und recycelten Baustoffen. Mit Straßen, die nicht mehr für das Auto geplant werden, sondern für Menschen: durchlässig, kühl, ruhig und lebenswert.
Auch die Energieversorgung wird neu gedacht – dezentral, regenerativ und gemeinwohlorientiert. Regionale Energiegemeinschaften versorgen Quartiere mit Strom und Wärme aus Sonne, Wind und Geothermie. Batteriespeicher in Wohnhäusern, Solarpaneele auf Schulen und Agri-Photovoltaik auf Feldern. Technik wird hier nicht zum Selbstzweck, sondern zum Werkzeug einer gerechten Transformation.
Das Bildungssystem wird zum Katalysator: Es fördert Kreativität, Kooperation und Zukunftsdenken. Schulen und Hochschulen werden zu Orten der Resilienzbildung – Lernräume, in denen junge Menschen nicht nur Wissen erwerben, sondern Selbstwirksamkeit erfahren. Berufsausbildungen richten sich stärker auf nachhaltiges Handwerk, auf Kreislaufwirtschaft und auf soziale Innovation.
Im ländlichen Raum entstehen klimaresiliente Dörfer: Orte mit energieautarken Häusern, individuellen Mobilitätskonzepten, gemeinschaftlich genutzten Werkstätten und gemeinsamer Pflege von Landschaft sowie Ressourcen. Landwirtschaft wird zum Partner der Transformation – durch Humusaufbau, Wasserrückhalt, klimafeste Sorten und neue Allianzen zwischen Stadt und Land.
Gleichzeitig braucht es einen politischen Geist, der echte Partnerschaft über kurzfristigen Profit stellt – insbesondere im Verhältnis zum globalen Süden. Europa steht in der Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen. Eine zukunftsfähige Kooperation zum Beispiel mit Afrika bedeutet: nicht belehren, nicht ausbeuten, sondern zuhören, gemeinsam entwickeln und wechselseitig profitieren. Es geht um faire Handelsbeziehungen, Zugang zu Technologien, Investitionen in Bildung, Energie, Gesundheit – und um Respekt vor lokalen Realitäten, Kulturen und Ressourcen. Klimagerechtigkeit wird so zum Maßstab einer neuen, solidarischen Weltordnung. Nicht als Altruismus, sondern als kluge Selbstvergewisserung: Denn die globale Transformation gelingt nur gemeinsam.

All diese Ideen tragen bereits einen Namen: Klimabauhaus Europa. Ein Projekt, das technologische, soziale und kulturelle Dimensionen der Anpassung verbindet. Es geht nicht nur um CO₂-Bilanzen – sondern um die Frage, wie wir morgen leben wollen. Wie Fortschritt aussieht, wenn er nicht nur schneller, sondern auch klüger, gerechter und lebendiger wird.
Schon das historische Bauhaus verstand sich als Aufbruch: ein Gestaltungswille, der die Bedingungen der eigenen Zeit ernst nahm – und aus ihnen etwas Neues schuf. Walter Gropius dazu: „Das Bauhaus war ein Besinnen auf uns selbst, auf das industrielle Zeitalter. Wir wollten aus den Bedingungen der Zeit etwas schaffen, was der Zeit wirklich entspräche.“
Heute stehen wir erneut an einem solchen Punkt. Das Klimabauhaus Europa ist ein visionäres Konzept, das an das historische Bauhaus anknüpft – jedoch unter den Vorzeichen der Klimakrise. Es basiert auf den Ideen der letztjährigen Studie Klimabauhaus Berlin sowie einer Monografie, in der das Klimabauhaus als Leitbild planetarer Politik weiterentwickelt wird. Auch jetzt braucht es ein Denken, das der Gegenwart entspricht – und eine Gestaltung, die Zukunft ermöglicht.
Klimafuturologie – ein neues Denken wird gebraucht
Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht es ein neues Denken über die Zukunft selbst. Ein Denken, das sich nicht in Modellen erschöpft, sondern Szenarien entwickelt. Das nicht nur Risiken kalkuliert, sondern Vorstellungen entwirft, wie ein gutes Leben in einer veränderten Welt aussehen kann.
Wir nennen dieses Denken Klimafuturologie. Es verbindet Naturwissenschaft mit Soziologie, Politik mit Poesie, Technik mit Imagination. Es fragt: Wie werden Menschen leben, wenn bestimmte Kipppunkte erreicht sind? Wie verändern sich Machtverhältnisse, Märkte oder Migration? Und vor allem: Welche kulturellen Bilder, welche Narrative können helfen, Orientierung zu schaffen in einer Welt, die sich zunehmend destabilisiert? Denn nur wer eine positive Vorstellung der Zukunft hat, wird bereit sein, sich dafür einzusetzen.

Zwischen Ohnmacht und Möglichkeit
Die Herausforderungen sind gewaltig. Aber Resignation ist keine Option. Gerade weil die Klimakrise alles durchdringt – Wirtschaft, Sicherheit, Gesundheit, Zusammenhalt – braucht es eine Haltung, die Widersprüche aushält und Komplexität nicht scheut. Wir müssen lernen, mit Unsicherheit zu gestalten, mit Unvollkommenheit voranzugehen und mit Widersprüchen zu leben.
Das ist die Essenz der Kairos-Zeit: nicht auf Erlösung zu warten, sondern im Moment der Krise den Keim der Möglichkeitsräume zu erkennen. Und Kairos am Schopfe zu packen.
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