Warum gerade jetzt die Weichen für Generationen gestellt werden
Eine Serie von Eckard Christiani und Prof. Dr. Stephan Rammler in forum Nachhaltig Wirtschaften. TEIL 1 – erschienen Juni 2025
Zukunft ist nicht etwas, das irgendwann geschieht. Sie ist kein ferner Horizont. Zukunft entsteht jetzt – in dem Moment, in dem wir atmen, entscheiden, gestalten oder auch zögern. Was gestern noch Utopie schien, wird heute Entscheidung – und morgen schon Realität. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit war die Wucht all dessen, was auf uns einwirkt, so tiefgreifend, so unumkehrbar, so umfassend wie heute.

Viele spüren, dass wir an einem historischen Schwellenpunkt stehen. In einem Moment, in dem sich globale Herausforderungen zu einem einzigen Prüfstein für das Überleben der Menschen verdichten: die Klimakrise, die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz, das Zerfallen geopolitischer Ordnungen und die demografischen Verschiebungen zwischen den Generationen. Diese Herausforderungen sind keine isolierten Phänomene. Sie sind miteinander verwoben, sie wirken ineinander, sie verstärken sich – wie Resonanzen in einem fragilen System. Und genau deshalb lassen sie sich auch nicht einzeln lösen. Sie fordern eine neue, integrierte Sichtweise. Eine, die Zusammenhänge erkennt. Eine, die den Mut hat, alte Denkweisen zu überwinden.
August Bebel sagte: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Schauen wir zurück! In der griechischen Philosophie gibt es zwei Vorstellungen von Zeit: Kronos steht für die lineare, messbare Zeit – die Uhrzeit, das Fortschreiten der Jahre, das Ticken der Geschichte. Und dann gibt es Kairos: den entscheidenden Moment. Jenen seltenen Augenblick, in dem sich alles zuspitzt, in dem das Mögliche aufscheint – aber nur für einen Wimpernschlag. Wer ihn erkennt und entschlossen handelt, kann die Zukunft verändern. Wer zögert, lässt ihn ungenutzt verstreichen.
In der Mythologie wurde Kairos als geflügelter Jüngling dargestellt – mit kahlrasiertem Hinterkopf und einem einzigen langen Haarbüschel an der Stirn. Er war der personifizierte Moment der Gelegenheit. Man konnte ihn nur dann greifen, wenn man ihn rechtzeitig beim Schopf packte – sobald er vorbeigeeilt war, war es zu spät. Aus dieser Vorstellung stammt das geflügelte Wort, das wir bis heute kennen: die Gelegenheit beim Schopfe packen.
Genau in einem solchen Kairos-Moment steht unsere Gesellschaft heute. Doch was macht diesen Moment so einzigartig, so dicht, so voller Konsequenz? Wer verstehen will, was auf dem Spiel steht – und wo die Chancen liegen – muss sich diesen Kräften stellen. Schauen wir genauer hin.
Was sich einst als Umweltproblem tarnt, entpuppt sich als Zivilisationsfrage.
Der Klimawandel ist kein Phänomen der Zukunft mehr, sondern unsere Gegenwart. Die Pariser Klimaziele sind überschritten, die Heißzeit hat begonnen. Küstenregionen versinken, Wälder brennen, Städte werden geflutet – in Europa ebenso wie im globalen Süden. Was sich entfaltet, ist keine Phase, sondern eine neue Epoche der Erdentwicklung.
Dabei ist nicht die Erderwärmung das Problem – sondern die Art, wie wir damit umgehen. Wird Anpassung zum Luxusgut für reiche Nationen? Oder gelingt es uns, eine neue Ethik des Teilens zu entwickeln – von Ressourcen, Technologien, Verantwortung?
Europa hat die historische Chance, zur Avantgarde einer gerechten Anpassungskultur zu werden. Es könnte vorangehen mit disruptiven Sprunginnovationen, dem vollständigen Umstieg auf regenerative Energieträger, offenen begrünten Städten, CO₂-speichernder Architektur, mit sozial gerechter Transformation und partnerschaftlichen Allianzen mit den Ländern des globalen Südens. Doch dafür braucht es ein anderes Denken von Fortschritt: nicht als Beherrschung der Natur, sondern als Balance mit ihr.
Mit der KI betritt eine neue Dynamik die Bühne der Geschichte
Künstliche Intelligenz ist eine technologische Kraft, die nicht nur unser Arbeiten verändert, sondern mehr und mehr unsere Weltbilder. Noch begreifen wir sie als programmierbares Werkzeug, doch das ist ein gefährlicher Irrtum. KI ist kein statisches Produkt. Sie ist ein sich selbst beschleunigender Prozess. Eine emergente Denkmaschine, die längst beginnt, Entscheidungen zu treffen – über Kommunikation, Wissen, Sichtbarkeit. Und über unsere Demokratien.
Die eigentliche Brisanz liegt in der Perspektive: Was, wenn KI nicht länger dem Menschen dient, sondern eigene Maßstäbe entwickelt? Effizienz statt Empathie. Kontrolle statt Kooperation. In einer Welt, in der das Menschliche an sich infrage steht, wird die Frage nach Ethik zentral.
Europa hat hier eine historische Aufgabe – zwischen der digitalen Diktatur in China und der Datenherrschaft des Silicon Valley. Wir brauchen eine europäische KI, die kulturell verankert, demokratisch legitimiert und gemeinwohlorientiert ist. Eine Technologie, die uns hilft, Mensch zu bleiben – in einer immer maschineller werdenden Welt. Wir müssen die Balance neu erfinden.
Die Weltordnung zerfällt
Und mit ihr die Illusion der Unantastbarkeit Europas. Die Kriege der Zukunft werden nicht mehr allein mit Panzern geführt, sondern mit Drohnen, Datennetzen, Energienetzen. Macht verschiebt sich – nicht nur geografisch, sondern systemisch. China agiert langfristig und infrastrukturell, Russland revisionistisch und zerstörerisch, die USA schwanken zwischen technokratischer Elitenherrschaft und demokratischem Selbstverlust.
Europa steht zwischen den Polen – weder brutal noch visionär. Und genau darin liegt die Gelegenheit: In seiner Differenz liegt seine Bedeutung. Jetzt ist der Moment, in dem Europa sich neu erfinden kann – als kooperativer Gestalter einer Weltordnung, die nicht auf Dominanz, sondern auf Verantwortung basiert. In Allianzen mit Afrika, Lateinamerika, dem globalen Süden. Denn nur in Partnerschaft wird es gelingen, Stabilität und Gerechtigkeit zu schaffen – und Europa als ethische Macht zu positionieren.
Die Zukunft gehört den Jungen – aber entschieden wird sie von den Alten.
Es sind die Boomer, die heute noch die Parlamente dominieren, die Debatten prägen, die gesellschaftliche Leitlinien bestimmen. Doch die Welt, auf die wir zusteuern, ist eine völlig andere als die der Alten. Die Kinder, die heute geboren werden, wachsen in einer Wirklichkeit auf, die sich radikal von allem unterscheidet, was ihre Großeltern kannten.
Deshalb wird Bildung zur Schlüsselfrage der Gegenwart. Bildung nicht als Paukfach, sondern als Zukunftskompetenz: Kreativität, Empathie, Urteilskraft, planetarisches Denken. Aber auch die Älteren müssen neu gedacht werden: nicht als Problemgruppe, sondern als Ressource. Was wäre, wenn wir Europa nicht mit der Jugend verteidigten – sondern mit der Weisheit der Alten? Mit einer Seniorenarmee der Aufklärung, die Technologie, Erfahrung und Weitsicht verbindet? Zukunft braucht alle Generationen – und eine neue Form des gesellschaftlichen Miteinanders.
Am Übergang zu einer neuen Rolle des Menschen selbst.
Das Anthropozän, jene Ära, in der der Mensch zur geologischen Kraft wurde, hat uns an einen Abgrund geführt. Was folgt, könnte das Post-Anthropozän sein: eine Zivilisation, in der der Mensch nicht mehr das Maß aller Dinge ist, sondern Teil eines größeren Netzwerks des Lebens.
Weniger Dominanz, mehr Integration. Weniger Kontrolle, mehr Kooperation – nicht nur zwischen Menschen, sondern mit allen Lebensformen dieses Planeten. Vielleicht wird KI uns eines Tages helfen, mit anderen Arten zu kommunizieren. Vielleicht lernen wir, nicht nur den Wald zu nutzen, sondern mit ihm zu verhandeln. Was heute noch visionär klingt, ist womöglich der einzige Weg in eine bewohnbare Zukunft.
Ein neuer Humanismus
All dies verlangt nach einem neuen Menschenbild. Gegen die technokratischen Heilsversprechen der Silicon Valley-Eliten braucht es ein neues Narrativs: einen Humanismus des 21. Jahrhunderts. Einen, der nicht auf Abgrenzung, sondern auf Verbundenheit setzt. Der Demokratie nicht als Betriebsform, sondern als Kultur des Miteinanders begreift. Der die Vielfalt der Perspektiven nicht als Schwäche, sondern als Stärke erkennt.
Diesen Humanismus zu entwerfen – in Gedanken, in Politik, in Technologie – ist vielleicht die größte Aufgabe unserer Zeit. Und sie beginnt mit dem Mut, sich den Herausforderungen zu stellen. Mit einer klaren Haltung. Mit einem neuen Bewusstsein für den Moment, den wir gerade erleben: den Kairos-Moment.
Dies ist der Auftakt einer neuen forum-Serie. Einer Einladung zum Nachdenken – und zum Handeln. In den kommenden Ausgaben von forum Nachhaltig Wirtschaften nehmen wir die drängendsten Fragen unserer Zeit genauer unter die Lupe. Sieben Herausforderungen, sieben Gelegenheiten – sieben Kapitel eines Kairos-Moments, den wir nicht verstreichen lassen dürfen.
Wie kann Klimaanpassung zur Chance für globale Gerechtigkeit werden?
Was bedeutet es, wenn Künstliche Intelligenz nicht nur Werkzeuge, sondern Weltbilder verändert?
Welche Rolle kann Europa in einer zerrissenen Welt spielen – und welche Vision braucht es, um diese Rolle auch wirklich auszufüllen?
Wie sichern wir Zukunftsgerechtigkeit zwischen Alt und Jung, zwischen globalem Norden und Süden?Was braucht es für den Übergang ins Post-Anthropozän – und wie gelingt ein Zusammenleben, das nicht mehr vom Menschen aus denkt, sondern vom Netz des Lebens her?
Und wie könnte ein neuer Humanismus aussehen, der nicht der Vergangenheit nachhängt, sondern den Weg in eine radikal kooperative Zivilisation weist?
Diesen Fragen gehen wir in den kommenden Folgen nach – sachlich fundiert, visionär gedacht, kritisch und zuversichtlich zugleich. Als Autoren dieser Serie sind wir überzeugt: Noch ist es nicht zu spät. Noch liegt Zukunft in unserer Hand.
In Teil 2 werfen wir einen neuen Blick auf die Klimakrise – nicht als Schicksal, sondern als Chance zur kulturellen Erneuerung. Denn die Frage lautet nicht nur: Wie verhindern wir das Schlimmste? Sondern auch: Wie gestalten wir das Beste?
Bleiben Sie mit uns im Gespräch. Denn die Zukunft beginnt – genau jetzt.
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