Leiser als das Tosen von Stürmen, kaum sichtbar im Alltag – und doch unaufhaltsam: Das große Sterben der Vielfalt ist längst im Gange. Gemeinsam mit der Klimakrise und den wachsenden Risiken neuartiger Pandemien bildet es eine gefährliche Dynamik, die unser gesamtes Zukunftsgefüge ins Wanken bringen kann. Prof. Josef Settele, einer der profiliertesten Biodiversitätsforscher Europas, erklärt in diesem Gespräch, warum Insekten dabei Schlüsselindikatoren sind – und warum wir die Triple-Krise endlich als das begreifen müssen, was sie ist: eine existenzielle Herausforderung für die Menschheit.

Herr Prof. Settele, Sie haben vor sechs Jahren gemeinsam mit Sandra Dias aus Argentinien und Eduardo Bondizio aus den USA den Globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) vorgelegt. Welche Erkenntnisse waren für Sie neu oder besonders beeindruckend?
Neu war für mich weniger der Inhalt des Berichts – den kannten wir im Kern. Beeindruckend war der Entstehungsprozess. Am Ende konnten wir gemeinsam mit den Vertreter:innen der Regierungen grundlegende Konzepte hinterfragen, etwa das Bruttoinlandsprodukt als Maß aller Dinge. Wir haben entschieden, diese Fragestellung im Bericht aufzugreifen. Es war erstaunlich, dass das trotz Widerständen am Ende gelungen ist.
Bei den Verhandlungen saßen alle mit am Tisch: die USA, Argentinien, Brasilien, Indien und China. Diskutiert wurde nicht nur über Umweltdaten, sondern über Werte, Ethik und Konzepte jenseits einer rein ökonomischen Betrachtung.
Letztlich sind es unsere subjektiven Wahrnehmungen, die Entscheidungen antreiben – gelegentlich von ein paar Fakten gestützt. Oft wünschen wir uns, dass Entscheidungen faktenbasierter wären. Doch gerade im politischen Alltag, im Wahlkampf etwa, sehen wir, wie stark Psychologie und Emotionen das Geschehen bestimmen.
In den Abschlussverhandlungen war deshalb nicht nur die Frage entscheidend, wie wir Klimawandel, Umweltchemikalien oder Landnutzung in den Griff bekommen. Wichtiger waren die Themen dahinter: Demografie, Governance, Wertschätzung, Ökonomie und Technologie. Kräfte, die oft unsichtbar wirken und doch maßgeblich dafür verantwortlich sind, was wir heute beobachten: Klimawandel, Artenverlust und mehr.
Seit der Veröffentlichung des Globalen IPBES-Berichts sind nun sechs Jahre vergangen. Was hat sich seither zum Positiven verändert – und was bereitet Ihnen aktuell am meisten Sorge?
Positiv ist: Der Bericht hat Kreise gezogen. Er wurde in den Medien breit aufgegriffen, und zumindest in der Fachwelt ist er präsent. Die IPBES-Arbeit hat zum Beispiel auf die Verhandlungen des globalen Biodiversitätsrahmens in Montreal deutlich Einfluss genommen. Teilweise wurden Passagen aus dem Bericht wortwörtlich übernommen – das war schon ein kleiner Meilenstein.
Was die Umsetzung betrifft, ist das Bild gemischt. In Deutschland wurden Teile der Empfehlungen aufgenommen, etwa in Maßnahmen zur Wiederherstellung von Ökosystemen oder im Austausch mit Ministerien. Mit dem Umweltministerium läuft die Kommunikation gut, auch weil dort viele Leute sitzen, die sich mit der Materie auskennen. Bei anderen Ressorts – vor allem da, wo es um Flächen geht, ums Bauen, um Landwirtschaft – ist es deutlich zäher.
Ich bin grundsätzlich optimistisch, aber man muss realistisch sein: Das Umweltministerium allein wird es nicht reißen. Wir brauchen ressortübergreifende Strategien – und davon sehe ich noch zu wenig.
Spannend finde ich allerdings, was sich in der Wirtschaft tut. Beim Biodiversity-in-Good-Company-Netzwerk zum Beispiel sind mittlerweile über 300 Unternehmen dabei – von Mittelständlern bis zu großen Playern wie Commerzbank oder Rittersport. Ich war kürzlich bei einem Vernetzungstreffen in Berlin, und da war deutlich zu spüren: In Teilen der Wirtschaft kommt das Thema an – nicht nur als Imagefaktor, sondern als strategische Notwendigkeit. Das hat mich wirklich überrascht.
Insgesamt würde ich sagen: Der Trend stimmt – aber das Tempo stimmt noch nicht.
„Noch immer ist nicht die Corona-Pandemie das größte Problem, sondern der Klimawandel, der Verlust der Artenvielfalt, all die Schäden, die wir Menschen und vor allem wir Europäer durch Übermaß der Natur anrichten.“ Dieses Zitat stammte nicht von Greta Thunberg oder dem WWF-Vorstand Christoph Heinrich, sondern vom damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Haben Sie das Gefühl, dass die Triple-Krise – wie Sie sie nennen – inzwischen in den Köpfen der Politik angekommen ist?
Sie kommt langsam an – wie fest sie sich dort verankert, ist schwer zu sagen. Dass Wolfgang Schäuble als Vordenker solche Worte wählt, ist bemerkenswert. Aber es heißt nicht automatisch, dass er sie selbst verinnerlicht hat oder dass andere sie teilen. Als Altersweiser darf man Dinge sagen, die man dreißig Jahre zuvor vielleicht nicht gesagt hätte. (schmunzelt)
Auch Ursula von der Leyen hat sich ähnlich geäußert. Ob sie mein Buch damals gelesen hat, weiß ich nicht – bekommen hat sie eines, und ein Dankesschreiben kam zurück. Ich gehe davon aus, dass ihr die Triple-Krise durchaus bewusst ist.
Allerdings: Wenn ich mir etwa die Zusammenfassung des G7-Kommuniqués von Carbis Bay aus dem Juni 2021 anschaue, finde ich diese Begriffe dort nicht. Das zeigt, wie wenig präsent das Thema international noch ist. Ich habe darüber auch mit der damaligen Bundesumweltministerin Svenja Schulze und Staatssekretär Jochen Flasbarth gesprochen. Auch sie sagten, dass wir hier noch nicht dort wären, wo wir sein müssten.
Die EU hat kürzlich das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur beschlossen – gegen massiven Widerstand, etwa aus der Agrarlobby. Wie bewerten Sie dieses Gesetz? Und reicht es aus, um den Biodiversitätsverlust in Europa wirklich zu bremsen?
Bremsen, ja. Stoppen – eher nicht. Aber das allein ist schon ein großer Schritt. Ich halte das Gesetz in seiner jetzigen Form, auch wenn es abgeschwächt wurde, für eine wichtige Errungenschaft.
Es war politisch hart umkämpft. Ich war selbst vor der Abstimmung bei der EVP im Europaparlament eingeladen – also der Fraktion, die unter Manfred Weber mehrheitlich dagegenhalten wollte. Einige Abgeordnete dort haben sich aber bewusst für das Gesetz eingesetzt – und auch dafür gestimmt. Das war keine Selbstverständlichkeit. Wenn diese Handvoll Abweichler gefehlt hätte, wäre es wohl gekippt.
Spannend fand ich dabei, dass auch Vertreter:innen der Landwirtschaft an dem Gespräch teilnahmen, die das Gesetz nicht als Bedrohung, sondern als Chance gesehen haben. Das zeigt: Es ist nicht immer das erwartbare Schwarz-Weiß. Und auch nicht jede Kritik aus der Agrarseite ist pauschal.
Inhaltlich finde ich besonders wichtig, dass das Gesetz konkrete Indikatoren enthält. Etwa zur Erholung von Bestäubern – da kann kaum jemand ernsthaft dagegen sein. Oder zur Strukturvielfalt in Agrarlandschaften und zur Entwicklung von Grünlandschmetterlingen. Die Mitgliedsstaaten können hier aus mehreren Indikatoren zwei auswählen. Ich habe empfohlen, erstmal alle drei zu prüfen – und dann die zwei besten zu übernehmen. Das fand man gar nicht so unklug.
Klar ist aber auch: Die Umsetzung wird anspruchsvoll. Manche Bundesländer wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern zeigen sich kritisch – liefern aber trotzdem erste Daten. Für mich ist das ein Zeichen: Man will sich die Tür nicht ganz zuschlagen, auch wenn nach außen noch gebremst wird.
Ich glaube, wir kommen aus der Nummer nicht mehr raus – und das ist auch gut so. Das Gesetz allein wird den Biodiversitätsverlust nicht aufhalten, aber es ist ein starkes Signal. Entscheidend wird sein, wie es jetzt auf nationaler Ebene mit Leben gefüllt wird.
Wie viele Einschnitte in die Artenvielfalt können wir uns als Menschheit noch leisten? Gibt es beim Artensterben, ähnlich wie beim Klimawandel, Kipppunkte, die wir keinesfalls überschreiten dürfen?
Klar gibt es die – aus Sicht jeder einzelnen Art. Wenn eine Art ausstirbt, ist sie für immer verloren. Mit ihr verschwinden Hunderttausende Jahre Evolutionsgeschichte. Eckart von Hirschhausen hat es einmal treffend formuliert: „Wenn die Klimakrise das Fieber von Mutter Erde ist, dann ist das Artensterben ihre Demenz.“ Und weiter: „Eine Art, die wir ausgerottet haben, kommt nie mehr zurück. Da hat die Evolution über Millionen Jahre durch Versuch und Irrtum ihre besten Ideen verwirklicht, und wir zerstören dieses Buch des Lebens, bevor wir es überhaupt gelesen, geschweige denn verstanden haben.“
Jede Art ist also ein kleiner Kipppunkt. Wann wir beim Artensterben als Ganzes einen Kipppunkt erreichen, wissen wir allerdings nicht genau. Das Tragische ist: Wenn wir ihn bemerken, wird es vermutlich schon zu spät sein.
Ökologische Systeme sind zwar in gewissem Maß gepuffert. Einzelne Funktionen können ersetzt werden. Doch wir sehen auch: Systeme, die von wenigen Arten geprägt sind, sind deutlich anfälliger.
Wenn ich heute in den Harz fahre, finde ich dort eine große Insektenbiomasse. Leider sind es überwiegend Borkenkäfer – und der Zustand der Wälder spricht Bände. Das zeigt: Eine hohe Biomasse allein ist kein Garant für ein stabiles, gesundes Ökosystem.
Wie gut verstehen wir heute eigentlich, welche Funktionen einzelne Arten im System erfüllen? Können wir überhaupt absehen, welche Kettenreaktionen der Verlust scheinbar „unbedeutender“ Arten auslösen könnte?
Allein das Wort scheinbar unbedeutend sagt ja schon viel. Denn in Wahrheit wissen wir über viele Arten und ihre Funktionen erschreckend wenig.
Bei bestimmten sogenannten Schlüssel- oder Schirmarten haben wir eine Vorstellung davon, welche Rolle sie im Ökosystem spielen. Aber bei der überwältigenden Mehrheit der Arten tappen wir weitgehend im Dunkeln.
Genau darin liegt das Risiko. Wenn wir Arten einfach verlieren und erst danach schauen, was passiert – dann ist es zu spät. In Europa orientieren wir uns am Vorsorgeprinzip, in den USA heißt es gern: Let’s see what happens. Das kann man in manchen Bereichen machen, aber nicht, wenn es um das Aussterben von Arten geht. Wie ein Unternehmer kürzlich sagte: Weg ist weg. Da lässt sich nichts mehr reparieren.
Was ich spannend finde: Immer mehr Unternehmen fordern heute klare Regeln von der Politik. Nicht, weil sie reguliert werden wollen, sondern weil sie dadurch Planungssicherheit gewinnen.
Ein Beispiel: Bei einem Treffen mit einer Vertreterin der Offshore-Windbranche aus Dänemark wurde sehr klar gesagt: Bitte schafft die Umweltverträglichkeitsprüfung nicht ab! Die hilft uns, sauber zu arbeiten, fair zu kalkulieren und uns am Markt zu behaupten.
Solche Stimmen zeigen: Viele Unternehmen sind längst weiter als die politische Debatte.
Wir wissen also genug, um zu handeln. Aber wir könnten noch viel mehr wissen, um besser zu handeln. So würde ich’s zusammenfassen.
Kann Künstliche Intelligenz nicht helfen, um den Verlust von Arten besser zu erfassen – und gezielter gegenzusteuern?
Absolut – aber nur, wenn die Datenbasis stimmt. Wenn ich genug valide Daten habe, kann ich mit KI fantastische Dinge machen: Muster erkennen, Zusammenhänge analysieren, Trends extrapolieren. Aber in vielen Bereichen fehlt uns genau das: belastbare Daten aus der Fläche.Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur bringt hier erste Fortschritte – etwa durch neue Indikatoren, auch im Wald: Totholzanteile zum Beispiel.
Ein schönes Beispiel aus dem Bestäuberbereich ist das Monitoring von Nachtfaltern. Klingt erstmal nicht so sexy – im Deutschen denkt man bei „Motten“ schnell an Löcher in Pullis. Aber Nachtfalter sind ökologisch enorm wichtig – und bislang wurden sie kaum systematisch erfasst.Wir haben dafür in den letzten zwei Jahren eine Methode entwickelt, die KI und Citizen Science kombiniert. In den Niederlanden zum Beispiel haben wir einfache Eimer mit LED-Licht aufgestellt – morgens kann man dann schauen, welche Insekten drin sind. Die Tiere werden fotografiert und per KI bestimmt. Die Bestimmungsquote bei Nachtfaltern liegt inzwischen bei rund 95 Prozent – das ist sensationell.Auch Landwirte fanden das spannend: Sie liefern die Bilder, bekommen Ergebnisse zurück und sehen, dass sie Teil der Lösung sind. So etwas hat enormes Potenzial – technisch, ökologisch und gesellschaftlich.
Durch Monokulturen, Pestizide und synthetische Dünger zerstören wir nicht nur unsere Böden, sondern auch die Vielfalt und Masse der Insekten.
Ganz klar. Wir reduzieren massiv die Vielfalt an Insekten – und damit zwangsläufig auch die der Pflanzen. Das eine bedingt das andere. Hinzu kommt der Verlust an Wirtsvielfalt.
Landwirtschaftliche Schädlinge sind ökologisch betrachtet nichts anderes als Viren: Sie profitieren davon, wenn ein Wirt, in diesem Fall eine bestimmte Pflanze, in großer Zahl und in Monokultur vorhanden ist.
Durch übermäßige Düngung erleben wir zudem eine zunehmende Homogenisierung der Landschaft. Einige wenige Arten, die mit hohen Stickstoffwerten gut zurechtkommen, breiten sich aus – die anderen verschwinden. So wird die Landschaft insgesamt immer eintöniger, ihre Diversität nimmt ab.
Ein Beispiel liefert das Tagfalter-Monitoring Deutschland, das seit 2005 läuft. Über 500 Freiwillige erfassen dort wöchentlich die Bestände der Tagfalter entlang fester Strecken.
Die Daten zeigen: Die Anzahl der Falter bleibt insgesamt stabil – die Biomasse verändert sich also kaum. Aber wir beobachten einen Verlust von etwa zehn Prozent der Artenvielfalt innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren, und das sowohl innerhalb als auch außerhalb von Schutzgebieten.
Das ist sehr viel in so kurzer Zeit. Mit anderen Worten: Wir haben heute bei gleicher Zahl von Faltern deutlich weniger verschiedene Arten.
Im Frühjahr 2024 ist das EU-weite Pestizidgesetz an massiven Widerständen gescheitert. Was hätte dieses Gesetz für den Insektenschutz in Europa bewirken können?
Eine ganze Menge. Allein schon, weil es auf eine Reduktion der Toxizität um 50 Prozent abzielte. Das wäre ein wichtiger Schritt gewesen.
In der öffentlichen Debatte wurde das Gesetz oft als radikaler Rundumschlag dargestellt – nach dem Motto: Entweder alles oder nichts. Solche Schwarz-Weiß-Logik hilft aber niemandem, außer vielleicht denen, die bewusst Stimmung machen wollen.
Klar ist: Insektizide töten Insekten – das ist ihr Zweck. Dass das überraschend zu sein scheint, sagt viel über die Kommunikationslage. Und natürlich betrifft es nicht nur Schädlinge, sondern oft die gesamte Insektengemeinschaft – auch die Nützlinge.
Ich habe selbst im Pflanzenschutz promoviert – damals in Asien, im Reisanbau. Und dort zeigte sich ganz klar: In vielen Fällen erzielt man ohne Insektizide stabilere oder sogar höhere Erträge. Warum? Weil sich natürliche Gleichgewichte besser einstellen. Wenn man mit Breitband-Insektiziden alles plattmacht, haben spezialisierte Schädlinge wie manche Zikaden plötzlich freie Bahn. Paradoxerweise entstehen die größten Schäden oft dort, wo gespritzt wurde.
Noch ein Detail, das oft vergessen wird: Insektenvielfalt in einem ungespritzten Reisfeld in Vietnam ist teilweise höher als bei uns in einem Buchenwald. Das zeigt, welches Potenzial in agrarökologischen Systemen steckt.
Aber das Ganze ist auch eine Frage der Wahrnehmung. In Vietnam haben wir etwa mit Fernsehserien gearbeitet – Seifenopern zur besten Sendezeit, in denen Landwirte lernen, warum „nicht spritzen“ besser ist. Das kam gut an – musste aber ständig wiederholt werden, weil natürlich auch andere Akteure versuchen, ihre Botschaften zu platzieren.
Deshalb war ich ziemlich irritiert, als ich im Bundestag zur Pestizidgesetz-Anhörung eingeladen war – immerhin hatte die EU in Montreal bereits verbindlich beschlossen, die Pestizidbelastung zu halbieren. Da fragte ich mich: Warum diskutieren wir das hier eigentlich noch mal?
Wissenschaftler:innen weltweit beklagen den dramatischen Rückgang von Hummeln, Faltern, Käfern, Bienen und Co. Warum sind Insekten für das ökologische Gefüge so wichtig?
Wenn sie nicht so wichtig wären, wären sie im Lauf der Evolution nicht so zahlreich geworden und hätten nicht so viele ökologische Nischen besetzt. Alle erfüllen ihre Rollen im System – manche davon sind geradezu zentral.
Nehmen wir etwa die Zersetzer. Ameisen sind dabei besonders eindrucksvolle Beispiele. Sie übernehmen im oberen Bodenbereich eine Schlüsselfunktion: Alles, was irgendwo herumliegt, wird von ihnen eingesammelt und verarbeitet. Ohne Ameisen würde ein entscheidender Teil der Zersetzungsprozesse schlicht ausfallen.
Ein kleines Beispiel aus der Praxis: Legt man einen bunten Kuchenkrümel auf den Waldboden, kann man genau beobachten, wie die Ameisen diesen Krümel oder seine Bestandteile abtransportieren. Auf diese Weise lassen sich übrigens Ameisennester aufspüren.
Ameisen sind hochspannende Insekten. Sie besitzen ein beeindruckendes Navigationssystem. Das Verkehrsaufkommen in einem Ameisenstaat ist enorm hoch – und doch gibt es niemals Stau. Hier wirkt offensichtlich eine Form von Schwarmintelligenz.
Eine Forschungsgruppe in Dänemark untersucht derzeit, ob sich aus dem Verhalten der Ameisen vielleicht sogar Anregungen für den menschlichen Straßenverkehr ableiten lassen.
Worin liegen die Hauptursachen für den Insektenschwund?
Wie Sie vorhin schon sagten: Die Landwirtschaft spielt hier eine große Rolle. Landwirte bearbeiten ihre Flächen, setzen Pestizide und Dünger ein. Aber man darf nicht vergessen: Sie sind letztlich Indikatoren dafür, was wir als Gesellschaft glauben, haben zu wollen – so diffus der Begriff „Gesellschaft“ auch ist.
Deshalb müssen Landwirte und Landwirtschaft auch Teil der Lösung sein. Viele Bäuerinnen und Bauern sind in einer schwierigen Lage. Sie glauben, gar nicht anders handeln zu können, und fühlen sich dann auch noch an den Pranger gestellt. Das ist bedauerlich. Viele von ihnen sind exzellente Kenner der Biodiversität – schließlich leben sie davon.
Landwirtschaft ist im Grunde angewandte Biologie. Natürlich läuft nicht alles optimal. Aber hier geht es um Bildung, um die Frage, wie viel Komplexität und Vielfalt man in ein landwirtschaftliches System zulassen will. Landwirtschaft heute bedeutet Wissen und Arbeit, kombiniert mit Hightech.
Die konventionelle Landwirtschaft früher war meist einfacher Ackerbau mit Viehhaltung. Ein moderner konventioneller Betrieb betreibt heute hochintensive Landwirtschaft.
Es gibt Alternativen – den ökologischen Landbau etwa. Und es gibt kein Beispiel, bei dem der Ökolandbau hinsichtlich Insektenvielfalt oder Landschaftsvergiftung schlechter abschneiden würde als die konventionelle Landwirtschaft.
Unser Konsumverhalten ist dabei ein zentraler Faktor. Wir haben uns an Dinge gewöhnt, die vermeintlich erstrebenswert sind: etwa ein Rindersteak auf einem teuren Grill. Ein Kilo Rindfleisch für zwölf Euro, zubereitet auf einer 1.200-Euro-Maschine. Sinnvoller wäre es umgekehrt: ein hochwertiges Steak für sechzig Euro, gegrillt über dem Lagerfeuer.
Mir geht es immer um Qualität statt Quantität. Mit dieser Haltung ließe sich schon viel erreichen.
Könnten wir alle rein ökologisch ernährt werden? Nicht, wenn wir unsere derzeitigen Ernährungsgewohnheiten beibehalten. Dafür müssten wir umsteuern und uns deutlich pflanzenbasierter ernähren.
Wenn wir alle Vegetarier:innen wären, müssten wir uns wiederum überlegen, wie wir artenreiche Grünlandflächen sinnvoll nutzen. Aber aktuell haben wir dieses Problem nicht.
Insekten leisten Bestäubungsarbeit – darüber hinaus aber noch viel mehr. Stichwort: Abwehr gegen Viren. Sind wir nicht dabei, die Corona-Pandemie inzwischen gut zu meistern? Oder anders gefragt: Was hat die Triple-Krise mit möglichen künftigen Pandemien zu tun?
Zum einen: Die Verarmung der Landschaft und der Verlust an Biodiversität begünstigen die Konzentration von Krankheitserregern. Viren können sich dadurch gezielt auf wenige Wirte spezialisieren.
Zum anderen: Tauende Permafrostböden setzen alte Erreger frei, wie etwa Milzbranderreger. Erreger, die längst besiegt schienen, tauchen plötzlich wieder auf. Hier verstärkt der Klimawandel eindeutig das Risiko, dass wir es mit solchen Erregern erneut zu tun bekommen.
Wenn der Permafrost verschwindet und der Schnee schmilzt, verändert sich die Oberfläche: Weniger Reflexion, mehr Wärmeaufnahme – ein sich selbst verstärkender Teufelskreis. So verstärken Landnutzung und Klimawandel gemeinsam die Wahrscheinlichkeit neuer Pandemien.
Das Paradoxe dabei: Wenn wir gut vorbereitet sind, wenn Prävention funktioniert, merkt es kaum jemand. Das ist das Dilemma. „There is no glory in prevention“, hat Prof. Christian Drosten wiederholt gesagt. Es interessiert niemanden, was gewesen wäre, wenn …
Ein Bereich, in dem Menschen sehr wohl bereit sind, für Prävention zu zahlen, ist das Versicherungswesen. Dort akzeptieren wir: Prävention kostet – und es ist gut, wenn man sie nie in Anspruch nehmen muss.
Durch die Ausbreitung neuer Insektenarten infolge des Klimawandels bekommen wir es zunehmend mit exotischen Krankheitserregern zu tun. Die Asiatische Tigermücke etwa bringt das Zika-Virus in unsere Breiten. Womit müssen wir künftig rechnen?
Jedes neue Virus – in Ihrem Beispiel das Zika-Virus, das von der Asiatischen Tigermücke (Aedes aegypti) übertragen wird – stellt auch für uns in Deutschland eine Herausforderung dar.
In anderen Ländern sind Mücke und Virus längst bekannt, dort gibt es Gegenmittel. Das macht den Umgang damit etwas einfacher als bei völlig neuartigen Erregern wie SARS-CoV-2, das uns 2020 unvorbereitet traf.
Man wird die Ausbreitung solcher Viren nicht völlig verhindern können – insbesondere dann nicht, wenn es wärmer und feuchter wird. Wir werden uns insgesamt auf neue Krankheiten einstellen müssen. Unser Gesundheitssystem ist aber gut aufgestellt, um diesen Herausforderungen zu begegnen.
Ein Team um den Ökologen Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig prognostiziert: Wenn wir das Tempo des Insektenrückgangs nicht bremsen, könnte in 75 Jahren nur noch die Hälfte der heutigen Insektenmasse existieren. Wie ließe sich diese Entwicklung verlangsamen?
Der wichtigste Faktor beim Insektenschwund – und bei der Biodiversitätskrise insgesamt – ist die Landnutzung.
Schauen wir nach Europa: Dort finden wir mehr Arten in vielfältig strukturierten Landschaften, die unterschiedlichste Kulturpflanzen beherbergen. Das heißt, wir müssten unsere Landwirtschaft stärker auf Vielfalt in der Fruchtfolge und auf strukturelle Diversität ausrichten.
Die Voraussetzungen dafür sind regional sehr unterschiedlich. Im Schwarzwald etwa ist die Landschaft bereits reich strukturiert. In Brandenburg hingegen haben wir große, strukturarme Ebenen.
Mehr Vielfalt würde hier nicht nur mehr Insekten hervorbringen, sondern auch positive Nebeneffekte haben – etwa weniger Wind- und Wassererosion. Wir alle kennen die Bilder von Windhosen, die in Brandenburg über die Autobahn fegen. Ein paar zusätzliche Hecken würden da Wunder wirken.
Im mittelsächsischen Hügelland wiederum könnten Hecken helfen, Bodenerosion bei Starkregen zu verhindern.
Insgesamt muss die landwirtschaftliche Nutzung so angepasst werden, dass sie mehr strukturelle und biologische Vielfalt zulässt. Unsere Kulturlandschaften haben einst viele angepasste Arten beherbergt, die wir schrittweise verloren haben.
Ein weiterer Punkt: unsere Ernährung.
Derzeit werden rund 60 Prozent der weltweiten Agrarflächen für die Produktion von Tierfutter genutzt – ein unglaublicher Anteil. Wenn wir deutlich weniger Fleisch konsumieren würden, wäre das ein wichtiger Beitrag.
Wir sähen dann Kühe und Schafe wieder auf der Weide, was dem Tierwohl zugutekäme. Gleichzeitig hätten wir weniger Stallhaltung, geringere Viehdichten – und damit weniger Stickstoffprobleme.
Dieser Komplex aus landwirtschaftlicher Nutzung und Ernährungsverhalten ist entscheidend.
Ebenso wichtig ist der Lebensmittelhandel. Heute dominiert ihn eine Handvoll großer Konzerne. Als Konsument*in habe ich bislang kaum die Möglichkeit, wirklich zwischen nachhaltigeren und weniger nachhaltigen Produkten zu wählen.
Zwar gibt es Fortschritte – etwa bei Tierwohllabels oder Öko-Siegeln. Aber um im Laden die Herkunft und Qualität eines Produkts zu erkennen, muss man oft noch viel Zeit investieren.
Hier ist die Politik gefragt. Der Nutri-Score zeigt, dass einfache, verständliche Kennzeichnungen möglich sind. Genauso brauchen wir klar erkennbare Umwelt- und Tierwohlkennzeichnungen. Es muss auf einen Blick sichtbar sein, ob ein Produkt ökologisch und ethisch vertretbar ist.
Letztlich ist das eine marktwirtschaftliche Frage: Wie viel Marktmacht und Lobbyismus wollen wir zulassen? Das klingt vielleicht etwas links – so ist es aber nicht gemeint. Wir erinnern uns: Schon im Global Assessment des Weltbiodiversitätsrats haben die Regierungen anerkannt, dass das Bruttoinlandsprodukt nicht das alleinige Maß für Fortschritt sein sollte.
Wie lässt sich das Tempo des Insektenrückgangs bremsen?
Zusammengefasst: Veränderte Landnutzung, verändertes Ernährungsverhalten und eine Anpassung des Handels.
Beim World Economic Forum in Davos gehörten im vergangenen Jahr die größten globalen Risiken: Biodiversitätsverlust, unzureichende Klimapolitik, extreme Wetterereignisse und Naturkatastrophen, teils menschengemacht.
Die Teilnehmer*innen in Davos stehen sicher nicht im Verdacht, radikale Öko-Ideologen zu sein. Es zeigt aber: Auch ökonomische Eliten nehmen diese Themen mittlerweile sehr ernst.
Wenn wir auf Länder wie Brasilien schauen, beschleicht einen der Verdacht, dass wir global nicht immer auf gesprächsbereite Partner zählen können. Sehen Sie dennoch Chancen, dass die Probleme international im nötigen Tempo angepackt werden?
Ich würde mir wünschen, dass Brasilien hier die Ausnahme bildet, die die Regel bestätigt. Aber ehrlich gesagt: So sicher bin ich mir da nicht. Es gibt inzwischen so viele Ausnahmen, dass man kaum noch weiß, was überhaupt noch die Regel ist.
Einige Länder bewegen sich in die richtige Richtung, andere gehen sogar voran – China zum Beispiel. Gleichzeitig steigt dort der Fleischkonsum ebenso wie der Absatz von SUVs, wovon wir wiederum profitieren. Warum ist China dennoch so aktiv? Weil die Menschen in Peking an manchen Tagen keine zwei Meter weit sehen können.
China ist deshalb noch lange kein Vorzeigeland – es startet von einem sehr niedrigen Niveau. Insgesamt kann man sagen: Der internationale Trend ist gut, das Tempo aber ist schlecht.
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, um unsere Gesellschaften insgesamt widerstandsfähiger gegenüber der Triple-Krise – also Artensterben, Klimawandel und Pandemierisiken – zu machen?
Das ist natürlich die große Frage. Aber eine der wichtigsten Antworten lautet: Vielfalt schafft Resilienz.
Je diverser ein System ist – ob Wald, Agrarlandschaft oder Gesellschaft –, desto besser kann es auf Störungen reagieren.
Ein einfaches Beispiel: Der Harz. Dort haben wir über Jahrzehnte auf Fichtenmonokulturen gesetzt – mit dem bekannten Ergebnis. Ein einziger Schädling, der Borkenkäfer, reicht, und riesige Flächen kollabieren. In einem strukturreicheren Mischwald wäre das so nicht passiert. Vielfalt ist wie ein Sicherheitsnetz.
Diese Logik gilt auch gesellschaftlich. Wenn wir in Landwirtschaft, Forstwirtschaft und urbaner Planung stärker auf Diversität setzen, bauen wir Puffer ein – gegen Krisen, Extremereignisse und schleichende Veränderungen. Das ist im Grunde auch die Kernaussage des Globalen IPBES-Assessments: Die großen Treiber des Biodiversitätsverlusts – Landnutzung, Ausbeutung, Klimawandel, Chemikalien, invasive Arten – sind eng verknüpft mit tiefer liegenden Faktoren wie Wirtschaftssystemen, politischen Strukturen oder gesellschaftlichen Werten.
Deshalb lässt sich der Schutz der Artenvielfalt nicht isoliert betrachten. Wir brauchen eine tiefere gesellschaftliche Veränderung – nicht nur technische Lösungen.
Und ja, viele halten Maßnahmen wie Blühstreifen oder Artenschutzprogramme für Kleinkram. Aber ich sage: Auch das lohnt sich. Solche Projekte sind wie kleine Arche-Noahs. Sie können helfen, Arten über schwierige Zeiten zu bringen – bis sich vielleicht größere Systeme ändern.
Solche Maßnahmen ersetzen keine grundlegende Transformation, aber sie verhindern, dass wir noch mehr verlieren, während wir auf diese Transformation hinarbeiten.
In Ihrem neuen Buch Keine Zeit für Pessimismus beschreiben Sie ein Projekt, das genau diesen Gedanken der Resilienz aufgreift: das Konzept der sogenannten Tiny Forests. Was fasziniert Sie an diesen kleinen Stadtwäldern besonders?
Zunächst mal: Sie sind wunderbar unordentlich. Und genau das ist ihr Wert. Sie schaffen Raum für etwas, das in unserer Welt oft zu kurz kommt – für Unsortiertes, Chaotisches, Wildes.
Da wächst dann erstmal ein scheinbar wirres Gestrüpp mitten in der Stadt. Aber mit der Zeit wird ein richtiger Wald daraus – klein, vielfältig, kühlend, lebendig. Und die Menschen sehen: Ah, so etwas hat eine Funktion. Schatten, Feuchtigkeit, Biodiversität. Gerade im urbanen Raum ist das Gold wert.
Mich fasziniert auch der pragmatische Ansatz. In Eberswalde zum Beispiel hat eine kleine Gruppe junger Leute einfach losgelegt. Ohne jahrelange Studien, ohne perfekte Planung. Sie haben gepflanzt, ausprobiert, umgesetzt. Natürlich kann man später immer noch verfeinern – die Artenauswahl optimieren, die Pflege anpassen. Aber erstmal zählt: Man kommt ins Tun.
Und genau das brauchen wir. Nicht noch mehr Gutachten, sondern mehr Mut, Dinge zu machen – auch wenn sie erstmal unperfekt sind. Diese Tiny Forests stehen für genau diesen Geist.
Was war die Idee hinter Ihrem Buch Keine Zeit für Pessimismus? Sie haben schon erzählt, wie es zur Zusammenarbeit mit Dirk Rossmann kam – aber warum gerade mit ihm, einem Unternehmer, der bisher vor allem Romane geschrieben hat?
Stimmt – bekannt wurde er durch seine Klima-Thriller-Trilogie, die Oktopus-Romane. Aber was mich wirklich angesprochen hat, war sein echtes Interesse am Thema Klima. Er wollte etwas bewirken, nicht nur schreiben.
Für mich war von Anfang an klar: Ich will ein Sachbuch machen. Dass Rossmann da mitzieht, war erstmal nicht abzusehen. Aber irgendwann sagte er: „Warum nicht mal ein Buch, das nicht nur spannend ist, sondern auch Substanz hat?“ Und dann ging’s los.
Das Buch selbst ist breit angelegt. Biodiversität kommt zwar nicht allzu prominent vor – aber Themen wie Tiny Forests sind drin. Uns ging es um Umwelt im weiteren Sinn – und vor allem um Menschen, die ungewöhnliche Wege gehen. Leute, die einfach loslegen, weil sie für etwas brennen.
Die Auswahl der Porträtierten war spannend – und ehrlich gesagt, eine ziemliche Lernkurve für mich. Ich habe vorher z. B. nichts über Batterietechnologien gewusst. Und dann saß ich in Quedlinburg bei einem Entwickler, erzählte was über Mandelbrot-Muster – und er dachte, ich wäre Physiker. Hat mich zwei Stunden mit Thermodynamik zugetextet. War anstrengend – aber auch lehrreich.
Im Kern ging’s uns darum, Begeisterung sichtbar zu machen. Menschen, die dranbleiben, auch wenn’s schwierig wird. Die Neugier treibt sie, nicht die Aussicht auf schnellen Applaus. Und genau das brauchen wir mehr – in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft.
Gab es Beispiele aus dem Buch, die Sie besonders beeindruckt, überrascht oder berührt haben?
Ja, mehrere. Besonders hängen geblieben ist mir das Batteriethema – ein Projekt, bei dem durch die Verwendung spezieller Glasfasern der Materialbedarf von Batterien drastisch reduziert werden kann. Klingt erstmal technisch, ist aber genial einfach. Im Rückblick denkt man: klar, hätte man drauf kommen können. Aber genau das ist ja oft das Kennzeichen wirklich guter Ideen.
Spannend fand ich auch die sogenannte „Neandertaler-Story“. Da geht es um die Suche nach uralter DNA in Fossilien, um neue Antibiotika zu entwickeln. Die Idee klingt fast abenteuerlich – aber sie ist wissenschaftlich fundiert und wird mit echter Neugier betrieben. Ich habe den Forscher später nochmal getroffen, in Leipzig. Faszinierender Typ.
Dann natürlich das Thema Moore – das liegt mir fachlich ohnehin näher. In Greifswald gibt es da eine großartige Forschungsgruppe, die sich seit Jahren mit Wiedervernässung und Renaturierung beschäftigt. Franziska Tanneberger etwa, oder Hans Joosten – sehr überzeugende Leute, die mit Leidenschaft bei der Sache sind. Und das Thema ist hochrelevant: für den Klimaschutz, für die Artenvielfalt, für den Wasserhaushalt.
Tiny Forests haben wir ja schon besprochen – auch das war ein tolles Beispiel. Aber es ging uns nicht nur um Ökologie. Ein weiteres Highlight war der Besuch bei Margret Rasfeld, einer ehemaligen Schulleiterin aus Leipzig, die mit ihrem radikal anderen Bildungskonzept beeindruckt. „Beerdigt das Notensystem“ – das war eine ihrer Aktionen. Plakativ, aber wirkungsvoll.
Als wir sie trafen, waren auch Schülerinnen und Schüler dabei – Zehnt- und Elftklässler. Die Gespräche mit ihnen haben mich ehrlich berührt. Man merkt: Da tut sich was im Denken. Und genau solche Menschen brauchen wir, um neue Wege zu gehen.
Das Buch zeigt: Veränderung kommt aus ganz verschiedenen Richtungen – Technik, Pädagogik, Landwirtschaft, Forschung. Aber überall steckt Begeisterung drin. Und das hat mich am meisten fasziniert.
Was unterscheidet diese „Helden“, die Sie in Ihrem Buch porträtieren, eigentlich von klassischen Best-Practice-Modellen?
Best Practice heißt: Etwas funktioniert – und wird weitergegeben, weil es sich bewährt hat. Das ist völlig legitim, oft sogar sehr hilfreich. Aber die Menschen, die wir im Buch vorgestellt haben, gehen anders vor. Sie schaffen Neues.
Sie beginnen nicht mit dem, was funktioniert, sondern mit einer Idee. Mit einer Vision davon, wie etwas funktionieren könnte – und setzen alles daran, das zu realisieren.
Es ist der Unterschied zwischen rückblickendem Lernen und vorausschauendem Gestalten. Beide Perspektiven haben ihren Wert – aber diese „Helden des Machens“ sind eindeutig auf der Seite des Gestaltens.
Wenn Sie drei Dinge nennen müssten, die sich in den nächsten fünf Jahren dringend und ungeduldig ändern sollten – was wäre das?
Fangen wir persönlich an. Ich würde gern endlich ein Forschungsprojekt zu Ende bringen, das ich seit 1989 betreue – ein Langzeitmonitoring von drei Schmetterlingsarten in der Pfalz. Zwei Wochen im Jahr bin ich dafür im Gelände unterwegs, eine wunderbare Gegend übrigens. Wir haben da eine einzigartige Datenreihe, mit der sich zeigen lässt, wie sich Landnutzung auf genetische Vielfalt, Populationsaustausch und langfristige Bestände auswirkt. Nur: Ich bin nie dazu gekommen, das alles auszuwerten. Das möchte ich unbedingt noch abschließen.
Zweitens: Ich will den internationalen Prozess weiter begleiten, etwa beim neuen globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats. Der erste Bericht war ein Meilenstein – der zweite wird nicht die gleiche Wucht haben, aber er ist wichtig. Ich bin dort in die Auswahl der Autor*innen eingebunden und bringe meine Erfahrungen in die Reviews ein. Solche Prozesse brauchen Kontinuität.
Drittens – und das ist vielleicht das Wichtigste: Wir müssen endlich besser darin werden, wissenschaftliche Erkenntnisse politikrelevant zu übersetzen. Das ist eine Daueraufgabe. Ich bin da in verschiedenen Beiräten aktiv, unter anderem beim wissenschaftlichen Beirat für Klimafragen (WBGU). Und ja, manchmal fühlt es sich an wie „Wiederholung schafft Wahrheit“. Aber genau darum geht es: dranbleiben, auch wenn es anstrengend wird.
Und manchmal hilft es, sich an die eigenen Wurzeln zu erinnern – wortwörtlich. Wenn ich zwei Wochen im Gelände bin, sehe ich wieder, wie viel Arbeit hinter vermeintlich simplen Studien steckt. Und was ich realistisch von Studierenden oder der Politik erwarten kann.
Was mir dabei hilft, ist das Prinzip der Szenarien. Ich sage nicht, was politisch zu tun ist – aber ich zeige, was passiert, wenn man sich für einen bestimmten Weg entscheidet. „Policy relevant, but not prescriptive“, wie es im IPCC und IPBES heißt.
Einmal hatte ich eine spannende Diskussion mit einer Kollegin von einem Chemiekonzern. Sie verstand meine Positionen nicht – bis ich sagte: Ich argumentiere vom Vorsorgeprinzip aus. Und sie: Ach so. Ich arbeite nach dem Scientific Method. Also Try and Error. Da wurde klar: Unsere Argumente sind nicht falsch – sie folgen nur völlig unterschiedlichen Grundannahmen.
Wenn wir uns – wie alle fünf Jahre – 2030 wiedersehen: Was würden Sie sich wünschen, was beim Schutz der Biodiversität in Europa oder weltweit bis dahin erreicht worden ist?
Ich wünsche mir, dass wir zumindest bei einigen wichtigen Indikatoren die Trendwende geschafft haben. Das ist im Biodiversitätskontext der entscheidende Punkt – „turning the curve“, wie man sagt. Den Verlust zu stoppen wäre schon ein großer Erfolg. Und wenn es gelingt, den Trend tatsächlich ins Positive zu drehen – dann wäre das fantastisch.
Das klingt vielleicht bescheiden, aber fünf Jahre sind in ökologischen Prozessen keine lange Zeit.
Wie gehen Sie damit um, dass es eigentlich immer zu langsam geht – obwohl die Lage so dringlich ist?
Das war für mich eine große Lernkurve. Innerlich bin ich oft ungeduldig – aber ich habe gelernt, diesen Druck nicht ungefiltert nach außen zu tragen. Denn je mehr ich versuche, mit Ungeduld zu überzeugen, desto größer wird die Gegenreaktion. Besonders im Umgang mit Praktikern oder Landwirtinnen und Landwirten bringt es viel mehr, auf Augenhöhe zu sprechen, zuzuhören, Optionen aufzuzeigen.
Gerade bei Jüngeren spüre ich den Drang: „Wir müssen jetzt etwas erreichen!“ – und das stimmt ja auch. Aber meine Erfahrung zeigt: Wenn man mit Klarheit, aber ohne Besserwisserei kommuniziert, hat man die besten Chancen, tatsächlich etwas zu bewegen.
Ich komme ja selbst aus der Landwirtschaftsecke – wenn auch technisch. Ich bin in Marktoberdorf im Allgäu aufgewachsen, wo Fendt sitzt. Meine halbe Verwandtschaft hat dort gearbeitet. Und als Jugendlicher habe ich sogar Prototypen für Fendt getestet.
Das erzähle ich manchmal auf Versammlungen – und sofort ist eine Verbindung da. Der Öko, der sich mit Traktoren auskennt? Der kann ja nicht ganz danebenliegen. (lacht)
Es geht letztlich immer darum, wie man Zugang schafft. Auf Augenhöhe. Und mit Respekt.
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